Regulatory

Die neue Produkthaftungsrichtlinie:
6 facts for take away

14. Juni 2024

In unserer Reihe „Product Law News in a Nutshell“ stellen wir regelmäßig neue Entwicklungen und Urteile im Bereich Produktsicherheit, Produkthaftung und nachhaltigen Produkten vor. Die meisten dieser vielfältigen Neuerungen stammen aus der Feder europäischer Institutionen.

Die Haftung für fehlerhafte Produkte wird massiv verschärft. Mit der vom Europäischen Parlament im März 2024 angenommenen neuen Produkthaftungsrichtlinie wird sich das bisherige, über 40 Jahre geltende und austarierte verschuldensunabhängige Haftungssystem nahezu vollständig verändern.

Im Ergebnis gehen die neuen Änderungen fast alle zulasten der Industrie – gerade im Zusammenspiel mit neuen Verbandsklagemöglichkeiten drohen erhebliche neue Haftungsrisiken, da verschuldensunabhängige Schadensersatzansprüche in großem Umfang beweisrechtlich relativ einfach durchgesetzt werden können.

Was sind die wichtigsten Änderungen, auf die sich Wirtschaftsakteure einstellen sollten? 6 facts for take away:

I. Neue Disclosure Obligations

Ein absolutes Novum im deutschen Zivilprozessrecht ist die Einführung von Offenlegungspflichten. Unterlagen der Produktentwicklung und -konstruktion, zu Rezepturen, der Produktion oder zu Erkenntnissen der Produktbeobachtung können beweispflichtige Geschädigte derzeit kaum in Verfahren einführen; die engen Vorlagepflichten der Gegenseite greifen in den seltensten Fällen. 

Das ändert sich bald:

  • Unternehmen können gezwungen werden, Beweismittel in ihrem Besitz herauszugeben, die zum Nachweis von Produkthaftungsansprüchen erforderlich sind. Dazu gehören auch Dokumente, die vom Unternehmen durch Zusammenstellung oder Klassifizierung erst erstellt werden müssen.
  • Die Voraussetzungen hierfür sind gering; erforderlich ist allein ein Antrag des Geschädigten und die Vorlage von Belegen, die einen Schadensersatzanspruch plausibel machen. 
  • Zwar sollen Gerichte die Offenlegungspflichten auf das „erforderliche und verhältnismäßige Maß“ beschränken; das Diskussionspotenzial der bislang mit dem System der Offenlegungspflichten nicht vertrauten Verfahrensbeteiligten, einschließlich der Gerichte selbst, ist aber bereits absehbar. Das gilt auch und insbesondere für die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen, für die der Gesetzgeber Gerichten ermöglicht, „besondere Maßnahmen“ zum Schutz zu ergreifen. Wie diese Maßnahmen konkret aussehen sollen, ist bislang offen.
  • Wermutstropfen: Die Offenlegungspflicht wird immerhin auch umgekehrt gelten, sodass auch Geschädigte verpflichtet werden können, Unterlagen z.B. zur Krankengeschichte vorzulegen.

Empfehlung: Erstellung von neuen SOPs zur internen Dokumentation.

II. Neue Beweiserleichterungen durch Vermutungen

Die grundsätzliche Beweislastverteilung bleibt. Geschädigte müssen also auch in Zukunft beweisen, dass (i) das Produkt fehlerhaft ist, (ii) sie einen (Gesundheits- oder Sach-) Schaden erlitten haben und dass (iii) der Produktfehler für den Schaden ursächlich war. Begründet wurde diese Beweislastverteilung bislang auch mit einem Ausgleich zur verschuldensunabhängigen Haftung des Wirtschaftsakteurs. 

Doch trotz der weiterhin verschuldensunabhängigen Haftung werden nun erhebliche Beweiserleichterungen in Form von (widerlegbaren) Vermutungen eingeführt:

  • Die Fehlerhaftigkeit wird etwa vermutet, wenn der Wirtschaftsakteur gegen seine Offenlegungspflicht verstößt oder wenn der Schaden durch eine „offensichtliche Fehlfunktion“ bei vorhersehbarer oder üblicher Verwendung entstanden ist;
  • Der Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden wird vermutet, wenn das Produkt nachweislich fehlerhaft ist und der Schaden für den Fehler „typisch“ ist.
  • Die Fehlerhaftigkeit und/oder der Kausalzusammenhang werden vermutet, wenn trotz Erfüllung der Offenlegungspflicht der Nachweis wegen technischer oder wissenschaftlicher Komplexität übermäßig schwierig ist und der Geschädigter belegt, dass die Fehlerhaftigkeit und/oder Kausalität „wahrscheinlich“ ist. 

Auch hier ist zu erwarten, dass die verschiedenen offenen Rechtsbegriffe erst in einer sich noch neu zu entwickelnden Rechtsprechung ausgestaltet werden, bis dahin aber viel Unsicherheit herrschen wird.

III. Mehr haftende Unternehmen

Zukünftig werden weit mehr Unternehmen als bislang verschuldensunabhängig für Produktfehler haften können; viele davon haben keinerlei Einfluss auf die Fehlerfreiheit des Produkts. Haften werden zukünftig neben Herstellern, Importeuren und (subsidiär) Händlern auch:

  • Bevollmächtigte;
  • Personen, die bereits in Verkehr gebrachte Produkte wesentlich verändern;
  • Fulfilment-Dienstleister (wenn kein Hersteller, Importeur oder Bevollmächtigter in der EU);
  • subsidiär auch Online-Verkaufsplattformen, wenn keiner der primär Haftenden ermittelbar ist und diese trotz Aufforderung nicht benannt werden.

Empfehlung für neu erfasste Wirtschaftsakteure: Um entsprechenden Versicherungsschutz kümmern.

 

IV. Erweiterte Haftung durch weiteren Fehlerbegriff

Ein Produkt gilt weiterhin als fehlerhaft, wenn es nicht den berechtigten Sicherheitserwartungen entspricht. Während dieser Begriff bislang vor allem durch die Rechtsprechung ausgestaltet wurde, wird das Gesetz zukünftig weit mehr Vorgaben für die Bewertung der Fehlerhaftigkeit machen, wichtig vor allem bei technischen Produkten.

Neu ist etwa:

  • Das Produkt gilt auch dann direkt als fehlerhaft, wenn es nicht den regulatorischen Sicherheitsvorgaben entspricht;
  • Berücksichtigt werden sollen bei der Bewertung z.B. eine etwaige Fähigkeit des Produktes nach Inverkehrbringen weiter zu lernen; vorhersehbare Auswirkungen anderer Produkte auf das Produkt, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Produkte zusammen verwendet werden; Korrekturmaßnahmen, wie etwa Rückrufe; bei Produkten, deren Zweck darin besteht, Schäden zu verhindern, die Nichterfüllung dieses Zwecks;
  • Maßgeblicher Zeitpunkt der Bewertung: Grundsätzlich bleibt der Zeitpunkt des Inverkehrbringens ausschlaggebend. Bei Produkten, die nach diesem Zeitpunkt aber weiter unter der Kontrolle des Herstellers stehen, ist erst jener Zeitpunkt maßgeblich, ab dem der Hersteller keine Kontrolle mehr hat.

Empfehlungen: Überprüfung der Warnhinweise; Berücksichtigung der Haftungsauswirkungen bei Entscheidung über freiwillige Produktrückrufe.

V. Wegfall von finanziellen Haftungsgrenzen

Aufgrund der Verschuldensunabhängigkeit wurde die Produkthaftung bislang mit finanziellen Haftungsgrenzen beschränkt. So bestand in Deutschland bei Sachschäden ein Bagatellvorbehalt von EUR 500, Schadensersatzpflichten für Gesundheitsschäden waren bei EUR 85 Millionen gedeckelt.

Solche Haftungsgrenzen sieht die neue Produkthaftungsrichtlinie nicht mehr vor. Wirtschaftsakteure können daher zukünftig unabhängig von einem etwaigen Verschulden völlig unbeschränkt haften.

Empfehlung: Anpassung der Versicherungen.

VI. Zeitlich längere Haftung

Verschuldensunabhängige Produkthaftungsansprüche erlöschen weiterhin automatisch 10 Jahre nach dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts.

Zukünftig wird es aber eine Ausnahme geben, wenn die Latenzzeit des Gesundheitsschadens länger ist. In einem solchen Fall erlöschen die Ansprüche erst nach 25 Jahren; einem Zeitraum, in dem wichtige Dokumente und beteiligte Personen in den meisten Fällen nicht mehr verfügbar bzw. im Unternehmen sind.

Empfehlung: Anpassung der Versicherungen, Erstellung von neuen SOPs zur Verwahrdauer von bestimmten Dokumentationen.

 

Der vom Europäischen Parlament angenommene Text wird nun noch einmal sprachlich überarbeitet und soll im Herbst im Berichtigungsverfahren verabschiedet werden. Zwei Jahre nach Inkrafttreten müssen die Mitgliedsstaaten die neuen strengen Produkthaftungsvorschriften in nationales Recht umsetzen. In Deutschland ist mit einer umfangreichen Änderung der ProdHaftG zu rechnen. Die neue, massiv verschärfte Produkthaftung gilt dann für Produkte, die ab diesem Zeitpunkt in Verkehr gebracht werden; für alle Produkte, die bislang oder bis zur Umsetzung in Verkehr gebracht werden, gilt weiterhin das bisherige ProdHaftG.

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